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Spirituelle Toxic achtsam wahrnehmen

Spirituelle Toxic achtsam wahrnehmen

Im spirituellen Feld

Ich denke und fühle immer wieder über Spirituelle Toxic nach. Und auch, was notwendig ist, um sie zu erkennen und zu verändern. So Vieles, was mir in dem immer größer werdenden Feld von Yoga, Meditation, spirituellen LehrerInnen, Spiritualität praktizierenden Menschen begegnet,  ist so wunderbar und heilsam. Und doch ist es ein Feld, das auch von „Menscheln“ geprägt ist.

Der Lehrer, der die spirituelle Praxis mit Projektionen unterrichtet und einzelnen Praktizierenden bei jeglichen Schwierigkeiten vorwirft, dass ihr Ego zu groß ist, könnte vielleicht klarer reflektieren und sehen, ob das eine Projektion von ihm selbst sein könnte. Dass auch sein eigenes Ego noch unreflektiert sehr groß ist. Die Sangha, die Mitglieder mobbt. Die spirituell Übende, die ihrer Freundin sagt, dass sie die häusliche Gewalt deshalb erlebt, weil sie im früheren Leben ein Mann war, der seine Frau und Kinder geschlagen hat. 

Im spirituellen Unternehmen

Wenn der Direktor eines spirituellen Unternehmens auf der Webseite zu seiner Person erklärt, dass er spirituell zu seiner wahren Natur erwacht sei. Wenn er dann – vielleicht sogar vor sich selbst –  verschweigt, dass er danach aber letztlich doch immer wieder mal einschläft – vielleicht, weil er so wach doch noch nicht ist. Oder er das Erwachtsein unter Alltagsbelastung noch nicht aufrecherhalten oder wiedergewinnen kann. Wenn er es dann verpasst, die toxischen Seiten, die nach jedem Bewusstseinsschritt aufsteigen, zu erkennen, zu reflektieren, zu verwandeln, zu heilen und in sein Bewusstsein zu integrieren. Wenn er dann die Mitarbeitenden zwar manchmal liebevoll, manchmal konfrontativ aber eben auch häufig spirituell überheblich, kognitiv belehrend und manchmal sogar wie Dreck behandelt. Dann ist das einerseits „normal menschelnd“. Andererseits aber in seiner verantwortungsvollen Position absolut fern jeglicher Verantwortung, Integrität und Ethik. Und für die Mitarbeitenden sehr schwer zu durchschauen. Und noch schwerer ist es, das abzuwehren und für die eigenen Interessen einzustehen. 

Spiritueller Missbrauch

Spirituelle Toxic in Form von spirituellem Missbrauch ist viel weiter verbreitet, als das bekannt ist. Ein Tabu, drüber zu sprechen und kein Tabu, es zu tun. Das fängt an bei dem ganz „normalen“ Helfersyndrom, wo im spirituellen Feld besserwissende RatSCHLÄGE gegeben werden. Dann fühlt man sich vermeintlich stärker und kann die eigenen Schwächegefühle damit abwehren. Das geht weiter mit der Yogalehrerin, die am Flyerstand im Biosupermarkt die Flyer der anderen Yogalehrerin alle mitnimmt, damit nur ihre eigenen ausliegen.

Und geht noch weiter mit LehrerInnen, die sich nicht ausreichend selbst reflektieren, die nicht in Supervision sind, die ihre blinden Flecken noch nicht kennen und die sich darum auch nicht kümmern. Die in Machtkämpfen  um den spirituellen Markt verstrickt sind, oder darum, wer spirituell Recht hat. Die die spirituellen und emotionalen Bedürfnisse von Menschen ausbeuten und immense Summen einstreichen und glauben, das Recht auf einen spirituellen Neokapitalismus zu haben und ihre Arbeit ja ach so wertvoll ist und deshalb unsagbar teuer sein darf. Und schließlich diejenigen, die physische, psychische oder sexualisierte Gewalt anwenden.

Symbolbild für ein Meditationsretreat. Wir halten jetzt natürlich viel mehr Abstand und sind in einem viel größeren Raum!Die grausame Krönung ist dann noch der spirituelle Lehrer mit weltweit zigtausenden von AnhängerInnen, der physische, psychische und sexualisierte Gewalt angewendet hat. Diese hat er als seine „ungewöhnlichen Methoden als Lehrer“ verkauft. Alle seine Studierenden, die mit seinen „ungewöhnlichen Methoden“ Schwierigkeiten haben, galten als „die sind halt noch nicht so weit“. Für diese armen missbrauchten Geschöpfe hat er eine eigene Therapieform entwickelt. Diese Therapieform müssen die Betroffenen auch noch teuer bezahlen, um von den Wunden, die er ihnen zugefügt hat, vermeintlich zu heilen. Das ist dann nicht einfach nur Tocic. Nicht einfach nur spiritueller Missbrauch. Das muss man deutlich sagen: das ist Sadismus. 

Wie kann sich das überhaupt so verbreiten?

Jede und jeder von uns hat Toxic in ihrem und seinem Leben erlebt. Es steckt größtenteils unreflektiert in jeder und jedem von uns drin. Toxic wird dämonisiert. Sie wird identifiziert mit dem Bösen, und das Böse will niemand haben und deshalb wird es tabuisiert, darüber zu sprechen. Es gibt im spirituellen Feld diese heilsame Gewohnheit, immer das Gute und Schöne wahrzunehmen. Das ist soo wertvoll! Es stärkt uns und fördert unsere Fähigkeit, in Kohärenz zu leben, glücklich sein zu können und auch, Kraft damit selbst zu generieren, die wir brauchen, um das Schwierige im Leben zu konfrontieren und zu heilen. Oftmals wird aber dabei das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Das Schwierige ignoriert – auch weil es vermeintlich keine geeignete Form zu geben scheint, es anzusprechen. Und auch, weil es ein Tabu ist. 

Die Große spirituelle Sehnsucht

Es gibt eine große Sehnsucht in uns Menschen nach einem heilsamem Ort, nach einem heilsamem Umfeld, nach einer heilen Welt, in der alles in Ordnung ist und wo es Regeln gibt, die diese heile Welt ermöglichen und dauerhaft aufrechterhalten. Teilweise ist das eine kindliche Sehnsucht, die von einem inneren Ort stammt, wo wir von Konflikten überfordert sind. Wir suchen eine/n Lehrer/in, die für eine heile Welt in einer spirituellen Gemeinschaft sorgen. Mit dieser tiefen spirituellen Sehnsucht sind wir leicht ausbeutbar, ohne dass uns das eine wie das andere bewusst wäre. Unsere Seele ist von Natur aus arglos. Wir finden teilweise Erfüllung dieser Sehnsucht. Alles, was diese Sehnsucht nicht erfüllt, erforschen wir oftmals sogar brav mit unserer spirituellen Praxis und suchen den Fehler bei uns selbst – so wie  ein/e spirituelle/r LehrerIn das immer von uns fordert – und wie es ja auch teilweise angebracht und auch erleichternd  ist:  den eigenen Anteil zu erkennen, zu reflektieren und zu erforschen. Aber eben nicht immer.

Unzulängliche Ausbildung

Die im spirituellen Feld Arbeitenden sind manchmal nur unzulänglich darin ausgebildet, sich selbst zu reflektieren. Manchen Menschen fehlt auch schlicht die Selbstreflexionsfähigkeit. Es gibt keinerlei Verpflichtung zu Supervision, wie etwa für Psychotherapeuten. Es gibt eher einen Konsens unter Lehrenden, „wir sind die Guten“, als dass sie sich in dem reflektieren, wo sie ihr eigenes Gewaltpotential ausagieren. 

Das eigene Gewaltpotential reflektieren

Selbst in solchen spirituellen Traditionen, wo es zum Kern der Ethik gehört, das eigene Gewaltpotential zu erkennen, zu reflektieren und zu transformieren – wie z. B. in der Plum Village Tradition, die Thich Nhat Hanh ins Leben gerufen hat – habe ich diese psychische und spirituelle Gewalt durch LehrerInnen erlebt. Diese menschelnde Seite von spirituell Lehrenden ist tabuisiert. Zumindest, was das darüber sprechen angeht. Es ist jedoch nicht tabuisiert, das eigene Gewaltpotential auszuagieren. Mobbing und Intriganz geschehen auch in solchen Feldern. 

Meditation allein macht uns nicht zu guten Menschen

Niemand von uns wird allein durch Meditation ein guter Mensch. Im Japanischen Faschismus waren sogar anerkannte Zenmeister Unterstützer des Regimes und der Folter und Morde, die dort geschahen. Eine integere spirituelle Praxis beinhaltet Ethik. Ethik besteht aus der Sammlung von Werten auf der Basis von Würde, Authentizität, Aufrichtigkeit und Menschenrechten, denen wir im Leben folgen wollen. Diese Ethik wohnt uns von Natur aus inne. Mitgefühl ist beispielsweise eine angeborene Haltung, wie Studien bewiesen haben. Erlittenes Trauma zerstört nicht nur seelische Unversehrtheit – es zerstört auch diese Ethik. Wird ein Trauma bearbeitet und geheilt, heilt auch die Fähigkeit, die angeborene Ethik wieder zu verinnerlichen. 

Ethik wird vernommen aus Sensibilität für uns selbst

Wenn wir – spirituell Lehrende ebenso wie spirituell Praktizierende –  uns fragen, was uns in der Tiefe unseres Menschseins wertvoll und kostbar ist, dann machen die Antworten auf diese Fragen unsere Ethik aus. Wenn wir nach dieser Ethik leben, geht es uns gut, sind wir glücklich. Um die innere Stimme, die uns auf unsere Ethik hinweist, zu hören, brauchen wir viel Sensibilität, Nach-innen-Tasten und Aufmerksamkeit für uns selbst. Wir wissen tief im Innern sehr genau, was „richtig“ und „gut“ ist.

Dieses intuitive Wissen – unsere uns als Mensch natürlicherweise innewohnende Ethik –  ist für uns alle – spirituell Lehrende ebenso wie spirituell Praktizierende – der Seismograph dafür, nicht nur das Heilsame und Wohtuende und Wachstumsfördernde in unseren spirituellen Erfahrungen zu erkennen, sondern auch spirituelle Toxic zu erkennen, zu reflektieren, zu transformieren – und auch unsere Lehrenden damit zu konfrontieren und ihre Selbstreflexion zu fordern. Damit schaffen wir Raum für all das Heilsame, wonach wir uns alle so sehr sehnen und werden zum Segen – für uns selbst und für andere. 

© Claudia Iseler