Den Tod umarmen
Den Tod umarmen
Ich habe die Ausschreibung eines Workshops gesehen. “ Den Tod umarmen. Schreibwerkstatt. “ Ohne zu überlegen weiß ich sofort, dass ich diesen Workshop besuchen will. Warum? Keine Ahnung. Ich bin überrascht von dem Gefühl der Freude angesichts des Besuchs der Schreibwerkstatt und der Beschäftigung mit dem Tod auf diese Art und Weise.
Freude und Lebendigkeit
Den Tod umarmen. Die Idee, mich so mit Tod zu befassen – schreibend und ihn umarmend – erfüllt mich mit Freude und Lebendigkeit. Kognitiv erst mal völlig unlogisch. Aber ich fühle, es ist jetzt, wo ich 61 bin, genau die richtige Zeit, mich damit zu befassen, den Tod zu umarmen. Ich will mich vorbereiten darauf. Ich sehe dem ins Auge, dass ich mich auf meinen Tod hinbewege. Die statistische Lebenserwartung von 18,5 zusätzlichen Jahren ab jetzt ist überschaubar für mich. Und ich bin schon seit einer Weile erfüllt von der Vorstellung, es könnte etwas Nicht-Schreckliches daran sein, dass ich sterben werde – auch wenn ich mein Leben LIEBE.
Todestag meiner Mutter
Heute, am 3. Jahrestag des Todes meiner Mutter Rose Iseler, nehme ich diesen Tag zum Anlass, darüber zu schreiben. Sie ist im Alter von 104 Jahren gestorben. Mein Arzt meint, ich hätte gute Gene und würde sicher sehr alt. Aber gut – man kann nie wissen…ich habe mich dran gewöhnt, jeden Tag zu genießen und für jeden Tag dankbar zu sein. Ich will mich weder an die Prognose des Arztes, noch an die statistischen 18,5 Jahre klammern. Man kann nie wissen….
Aufgaben in der Schreibwerkstatt
In der Schreibwerkstatt bekommt man eine Reihe von kleineren und größeren Aufgaben. Eine der Aufgaben ist z. B., zu 3 verschiedenen Blättern, die im Raum verteilt liegen und auf denen jeweils ein Buchstabe steht, zu gehen, und Worte mit diesen Anfangsbuchstaben darauf zu schreiben. Worte, mit denen wir etwas Angenehmes verbinden. „O“ stand auf einem Blatt, auf einem anderen „T“ und auf dem Letzten „D“. Also schrieb ich „Obst, Orientierung, Ordnung“ und „Terrasse, Tee, Telefon“ und „Dahlie, Drossel, Dattel“ oder ähnliche Worte.
Der Tod in unserer Mitte
Die Blätter werden in die Mitte gelegt. Ein großes rotes Tuch, eine Kerze, eine Blume und …..diese Blätter „Der Tod ist jetzt in unserer Mitte und ist mit angenehmen Worten verbunden“, sagt die Schreibwerkstattleiterin. Ich schaue verwundert in die Mitte. Was meint sie damit. Erst da begreife ich. Die 3 Buchstaben sind die Buchstaben des Wortes „Tod“. Welche Feinsinnigkeit: der Tod ist in unserer Mitte. Und ihn in die Mitte zu nehmen! Mit angenehmen Worten verbunden!
Brief an den Tod
Eine weitere Aufgabe ist es, dem Tod einen Brief zu schreiben und ihn am Ende des Briefes zu umarmen. Das wird für mich zu einer Art Transformationsreise. Denn am Anfang weiß ich noch nicht so recht, was ich denn schreiben will. Nur, dass ich ihn umarmen will am Ende, das weiß ich ganz gewiss.
Hallo lieber Tod,
so lange habe ich so gelebt, als gibt es dich nicht wirklich. Oder als gibt es dich nicht wirklich in meinem Leben. Naja, schon im Leben anderer natürlich. Aber nicht in meinem. Vaters Leben – endete mit Dir. Mutters Leben – endete mit Dir.
Und dann….wenn ich jetzt darüber schreibe, taucht in mir mit einem Mal diese Lehre auf, die Lehre von „Keine Geburt – Kein Tod“. „No beginning – no end“. „Unborn and indestructible – beyond time and space“. Buddhistische Lehre.
Plötzlich spüre ich tief in mir, dass ich davon ausgehen kann, dass Du nicht das Ende des Lebens bist. Nein, das bist du nicht! Du bist eine Phantasie, eine Illusion, du bist die Projektion von etwas hinein in ein Phantasiewesen – in dieses Skelett im dunklen Kapuzenmantel und mit der Sense in der Hand. Die Projektion dieses Mysteriums des letzten Atemzugs, mit der ein besonders intensiver Teil des Lebens beschrieben oder benannt wird. Nein, Du bist es nicht, der mich abholt. Du bist einfach die Abrundung des Lebens in diesem Körper.
Ja. Ich habe das feste Vertrauen, dass Du einfach ein Teil meines Lebens bist. Dass Du ein Wort, eine Personifizierung des Momentes bist, in dem ich den letzten Atemzug tue. Du bist einfach eine Bewegung meines Lebens, das irgendwann diesen Körper verlassen wird – so wie ich das will. So, wie ich das entscheide.
Nun weiß ich: Du bist ich. Wir sind eins.
In inniger Umarmung
Deine Claudia.
© Claudia Iseler
Super Sabine (Sabine Krink)
Danke für diesen Beitrag!
Mein Lieblingssatz ist: „…ich bin schon seit einer Weile erfüllt von der Vorstellung, es könnte etwas Nicht-Schreckliches daran sein, dass ich sterben werde – auch wenn ich mein Leben LIEBE.“
Den nehme ich als Inspiration mit!
Herzensdank
Sabine
Claudia Iseler
Liebe Sabine,
Danke dass Du den Lieblingssatz mitteilst! Dadurch geht mein Fokus nochmal dorthin, und das fühlt sich schön an. Und er macht mir bewusst, dass es sich in meinem Innern verwurzelt hat, was ich mir immer gewünscht habe und mir nie vorstellen konnte, es zu vermögen: da ist keine Angst mehr, sondern FREUDE.
Manuela
Wundervolle Zeilen, die du da geschrieben hast!
Bei mir ist der Tode meiner Mutti jetzt 10 Jahre her. Das Loslassen hat lange gedauert. Mir hat sie vor ihrem Tode noch ein riesen Geschenk gemacht, indem sie das Büchlein „Mama erzähl mal“ noch vollständig beschrieben hat, obwohl ihre Krankheit schon sehr weit fortgeschritten war. Jedes Mal, wenn ich drin lese, überwältigen mich die Gefühle.
Dass der Tod ein Teil unseres Lebens ist, merke ich immer wieder. Privat gibt es Jahre, da war er sehr im Vordergrund. Und mich nervt es manchmal, dass erwartet wird, dass wir weiter funktionieren müssen.
Berufsbedingt hab ich viel mit den Friedhofsgärtnern zu tun. Da ist der Tod und der Umgang mit den Verstorbenen tägliches „Geschäft“.
Mit diese unterschiedlichen Variationen umzugehen, ist für mich manchmal sehr irreal.
Dann ziehe ich mir das Buch „Die zehn besten Tage meines Lebens“ als Hörbuch rein und erfreue mich an der Vorstellung, dass dort oben im Himmel meine Mutti, meine Oma, mein Erzeuger und mein Stiefpapi gemeinsam am Kaffeetisch sitzen, über mich reden und ablästern und wieder mal alles besser wissen, was MEIN Leben betrifft. 😉
Liebe Grüße, Manuela
Claudia Iseler
Liebe Manuela,
danke für Deine so persönliche Antwort und Resonanz auf meinen Beitrag! 🙂 Das Bild der Mutti, Oma, Erzeuger, Stiefpapi im Himmel ist wunderschön leicht und lebendig. Danke, liebe Manuela. Liebe Grüße, Claudia
Denisa Vadala
Ein wunderschöner Text über den Tod – danke dafür. Als meine Mutter vor knapp einem Jahr nach schwerer Krankheit starb und ich sie in diesem Prozess, in diesem letzten Schritt begleitet habe, stürzte mich das anschliessend in eine heftige Sinn Krise. Ich war mein Leben lang tief gläubig, bin medial veranlagt, bin als Schamanen eine Grenzgängerin. Und doch – der Tod meiner Mutter hat alles, woran ich geglaubt und vertraut habe, wie ein Karten haus zusammen fallen lassen. Die Leere, die dann übrig blieb, war lange Zeit kaum auszuhalten. Jetzt weiss ich, es war bis Dato meine heftigste, tiefgreifende Initiation. Der Tod hat mich verändert. Diese Begegnung, hat mich so viel mehr ins Leben geholt. Ich bin fest davon überzeugt, erst wenn wir uns bewusst mit dem Tod auseinander setzen, jeder auf seine Weise, werden wir anfangen können, wirklich und wahrhaftig zu leben.
Claudia Iseler
Liebe Denisa,
hab lieben Dank für das Persönliche, das du hier teilst! Es ist so schön, dass Du Deine Mutter begleiten konntest, als sie starb. So schön auch, dass Du ihren Tod als so tiefe Initiation erleben konntest. Und besonders schön, dass diese Initiation dich mehr ins Leben geholt hat. Ich fühle es auch so, dass die Auseinandersetzung mit dem Tod, und vor allem auch mit meinem eigenen Tod, mich mehr ins Leben geholt hat. Was ich deutlich spüre, ist, dass ich die Fortsetzung des Lebens meiner Mutter bin, dass ich zu 50% aus ihren Zellen bestehe und dass sie folglich in mir weiterlebt. Alles Liebe für Dich! Deine Claudia